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Hexen-und-Wissenschaft

Gegen manche Klischees von Hexenwahn und für die multiperspektivische Analyse der Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit / Teil 4 /  Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2020aug21

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Hexen und Wissenschaft Teil 4
Konfliktlinien und Aggressionspotentiale

Wenn es um's Thema Hexen geht, dann laufen in den Vorstellungen und Diskussionen mehrere Konfliktlinien durcheinander. Jede dieser Konfliktlinien hat eine eigene Macht und eine eigene Berechtigung, aber um sie aufzuarbeiten, also um die Ursachen der Hexenverfolgungen zu verstehen, müssen sie voneinander unterschieden werden.

Der Konflikt zwischen modernem Weltbild und mittelalterlichem Aberglauben

Die Konfliktlinie zwischen modernem Weltbild und mittelalterlichem Aberglauben erklärt nicht die Massenverfolgung, denn allem Aberglauben zum Trotz hatte das Mittelalter so gut wie keine Hexenverfolgungen. Die wenigen Fälle, in denen Menschen wegen Hexerei verurteilt wurden, Norman Cohn schätzt etwa einer pro hundert Jahre für ganz Europa, blieben Einzelerscheinungen. Und selbst da ist nicht sicher, ob Unschuldige verfolgt wurden. Schon bei der von Hexenjägern gern zitierten Bibelstelle "die Zauberin sollst du nicht am Leben lassen" (Exodus 22,17) wird heftig diskutiert, ob die Übersetzung so stimmt. "Vergifterin" statt "Zauberin" wäre die argumentativ gut belegte Alternative. Da oft wohl kein klarer Unterschied gemacht wurde, zwischen Giftmord und Hexerei, könnte es sich bei manchen Hexen-Fällen des Mittelalters um tatsächliche Kriminalprozesse, auch im modernen Sinn gehandelt haben. Tödliche Gifte gab es durchaus, aber ohne moderne forensische Medizin ist ein Giftmord schwer nachweisbar. Die Seltenheit der Verurteilungen spricht deutlich für einen zurückhaltenden Umgang mit solchen Verdächtigungen. Fehlurteile kann es natürlich trotzdem gegeben haben. Justizirrtümer geschehen auch heute noch. Dem Mittelalter ist manches, aber kein Hexenwahn vorzuwerfen.

Foto einer verschleierten Frau

Die Geister der Vergangenheit. Ausschnitt aus einem Foto von Alice Alinari.

Umso besser erklärt diese Konfliktlinie unsere Verstehens­schwierigkeiten mit den Hexenverfolgungen. Wir hätten halt gern alle Menschenfreundlichkeit und allen nüchternen Realismus hier in der Neuzeit, damit wir uns in unserem modernen Weltbild sicher und zuhause fühlen können. Allen Glauben an Geister, Teufel und Dämonen, an Werwölfe, Hexenschuss und Wetterzauber, würden wir dagegen am liebsten ins ferne Mittelalter verweisen. Unangenehm ist die Erkenntnis, dass die Verteilung von Gut und Böse nicht so klar geregelt ist. Die Hexenjäger propagierten den Glauben, all das Zeug sei ganz real. Und diese mörderischen Propagandisten waren Figuren der Neuzeit. Stand der Wissenschaft: Das fremdartige Mittelalter hatte eine nüchterne Beurteilung von Hexerei-Vorwürfen und ging relativ gechillt mit solchen Phänomenen um. In der Neuzeit aber hat das Unheimliche stattgefunden, massenhafte Folter und Verbrennungen. Diesseits unserer Grenze hatte der Wahn um sich gegriffen und solange wir ihn nicht verstanden haben, gibt es keine Sicherheit vor ihm. Dass die Wissenschaft so lange gebraucht hat, das Klischee von mittelalterlichen Hexenjagden aufzuklären, dürfte damit zusammen­hängen, dass es bequemer war, dem ohnehin schon schwer verständlichen Mittelalter auch noch die Schuld an den Hexenverfolgungen in die Schuhe zu schieben, anstatt sich der Auseinandersetzung mit den Geburtswehen der Neuzeit zu stellen.

Der Konflikt zwischen Christentum und Heidentum

Auch der Konflikt zwischen Christentum und Heidentum taugt nicht so leicht als Erklärung für die Vorgänge im 16. Jahrundert. Denn bei Ausbruch der Hexenverfolgungen existierte diese alte Konfliktlinie schon seit anderthalb Jahrtausenden. Von seiner Entstehung an, hatte sich das Christentum in verschiedenen Auseinandersetzungen mit dem Heidentum entwickelt. Manche Nachwirkungen solcher Auseinandersetzungen zogen sich quer durch's Mittelalter. Auch hatte, was als Heidentum noch zugange war, viele Jahrhunderte koexistiert mit dem Christentum als vorherrschender Religion. Das plötzliche Hochschaukeln von so altvertrauten, eigentlich schon lange befriedeten Konfliktstoffen bedürfte der Erklärung. Zumal im Volksglauben und in den Theologien oft schon jeweils passende Synkretismen gefunden worden waren. Den mittelalterlichen Menschen waren also viele ihrer heidnischen Relikte nicht mehr als solche bewusst. Christliche und heidnische Formen von Glauben und Aberglauben sind im Mittelalter sehr vermischt oder sogar miteinander verschmolzen.

Jakob Grimms bis heute populäre Gleichsetzungen der Hexen mit einer germanischen Volksreligion und ihrer Verfolger mit christlichen Missionaren, projezieren Missionsmodelle der Kolonialzeit zurück ins Mittelalter, wobei weder die Rollenverteilungen noch das Timing auf die Projektionsfläche passen. Die wohl erste Berührung der Germanen mit dem Christentum wird durch die gotische Wulfila-Bibel markiert. Wulfila starb 383 n.Chr., also eintausendunddreihundert Jahre vor dem großen Hexenmorden. Die zweite Missionswelle waren die iro-schottischen Mönche etwa von 600 bis 700 n.Chr., also tausend Jahre vor den Verfolgungen. Die dritte Christianisierung der Germanen war die fränkische Mission, da dürfte die Sachsenschlächterei Karls des Großen die unverheilte Wunde sein, die Jakob Grimms Gedanken fesselte, aber das Blutgericht von Verden war 782 n.Chr., also 800 Jahre vor den vielen Scheiterhaufen. Haben etwa die Weisen Frauen der Germanen 800 Jahre lang im Untergrund still gehalten, bis sie sich dann in Gestalt der Hexen endlich mal zum Aufstand aufrappelten? Meine Frage ist nicht so ironisch gemeint, wie sie klingt, sondern verweist auf ein anderes Bild von Religion und wie die Langsamkeit ihrer Entwicklung zu denken wäre. Gerne möchte ich mit Jakob Grimm den Glauben an die Langsamkeit der Religionsentwicklung teilen, aber um mehrhundertjährige Latenzphasen zu verstehen, bräuchte man mindestens Vergleiche mit nativistischen Bewegungen. Und mit einem solchen Verstehen würden wir die germanische Kulturgeschichte neu empfinden, nämlich solidarisch mit den vom Kolonialismus unterdrückten Kulturen. Weitaus schlimmer als die Time-Gaps ist an Jakob Grimms Hexentheorie ihre Befangenheit eben in einem Klischee von kolonialer Mission. Wulfila war kein Kolonialherr sondern ein kultureller Grenzgänger. Die iroschottischen Missionare hatten keine kolonialistische Macht über die Germanen. Die fränkische Mission hat vielleicht am ehesten so ähnliche Wunden geschlagen, wie später der Kolonialismus bei vielen anderen Völkern und Kulturen, nur war halt die Rollenverteilung ganz anders. Wer war die Kolonialmacht, wer die Eingeborenen? Was war deren Religion und woher kam die neue, aufgepfropfte Religion? Im Westeuropa der Spätantike war das Christentum die Religion der "Eingeborenen". Die neuen Herrscher waren germanische Könige, Merowinger, Karolinger, Langobarden und sonstige Reichsgründer. Diese "Kolonialherren" übernahmen die Religion der eroberten Gebiete, also der Eingeborenen. Die Religon wanderte also von unten nach oben, von den Unterworfenen zu den Unterwerfern. Verglichen mit dem Zeitalter des Kolonialismus lief diese Bekehrung der Germanen zunächst in umgekehrter Richtung. Was war die Motivation der neuen Herren, sich taufen zulassen? Wo danach Germanen unter Zwang christianisiert wurden, waren es germanische Herren, die in quasi kolonialistischer Manier ihren eigenen Stammesgenossen das Christentum als vermeintlich imperiale Reichsreligion aufdrückten. Die Germanen ließen sich zu dem verführen, was sie für den christlichen Glauben hielten, weil sie teil hatten am imperialen Ehrgeiz ihrer Häuptlinge. Ihre Christianisierung bestand aus dem Deal: Wir lassen uns diese seltsame Religion aufsetzen und bekommen dafür ein mächtiges, römisches Reich deutscher Nation. Wir werden imperial und falls erforderlich halt auch noch christlich, was auch immer das sein mag. Sie hatten das Christentum als Reichsreligion miss(?)verstanden. Das konnte nicht gut gehen. Immer wenn in deutschen Landen seither der Staat verunsichert wurde, durch verlorene Kriege oder Wirtschaftskrisen oder sonstige Demütigungen des Germanenstolzes, dann droht dieser mit Rückgängigmachung des faulen Deals, das heißt dann werden Wotan und Thor, Freya und die Walküren aus der Klamottenkiste geholt und trotzig wieder Heidentum zelebriert. Sorry für die schnoddrige Kurzfassung der deutschen Volksseele, aber genau da geht es um die Langsamkeit der Religion, ihre Resistenz im Verborgenen. Die Frage nach einem kollektiven Unbewussten ist nicht per se mythoman. Sigmund Freud brachte es auf den Nenner: Die Sachsen sind schlecht getauft. Noch schlimmer aber als Grimms kolonialistische Projektionen in die Vergangenheit waren die Folgen seiner Germanen-Romantik. Er lieferte Ideologie-Bausteine an den Nationalsozialismus. Auch alle anderen Möchtegern-Rückfälle ins Heidentum brachten nur neue neuzeitliche Ideologien hervor. Mangelhaft analysierte Tiefenströme der Religion sind langfristig gefährlich.

Zurück zu den Hexen: Echtes Heidentum bei den Verfolgten analysieren die Forscher nur mit Mühe und großer Feinfühligkeit. Carlo Ginzburg bei den Benandanti versucht das große Fass aufzumachen und Wolfgang Behringer bei Chonrad Stoecklin versucht, es ihm zu wehren. Ich bin sehr dafür, es aufzumachen, meine aber, dass die Sicht auf's Heidentum eher von neuzeitlichen als von mittelalterlichen Hindernissen versperrt wird. Die Spuren vorchristlicher Religionen sind so schwer identifizierbar, weil sie zugeschmiert wurden nicht nur durch moderne Mythomanie sondern auch schon durch die fett proklamierten Feindbilder der Hexenjäger. Und diese Feindbilder bestehen zum wenigsten aus Heidentum, sondern meist nur aus der Verkehrung christlicher Rituale in ihr phantasiertes Gegenteil.

Der Konflikt zwischen Kirche und Katharern

Näher kommen wir den Ursachen mit dem Konflikt zwischen Kirche und Katharern. Das Feindbild einer organisierten Gegenkirche, wie es für die Katharer wirklich zutraf, wurde auf die "Hexenzunft" übertragen und erzeugte bei diesem unpassenden Bezugspunkt eine paranoide Stimmung. Im frühen Hexentheorie-Werk des Gelehrten Ponce de Feugeyron hat sich diese Übertragung bis in den Titel durchgesetzt: "Errores Gazariorum"(1436 n.Chr.) bedeutet wörtlich: "Die Irrtümer der Katharer", es beschreibt aber die vermeintlichen Hexen als eine organisierte Gegenkirche. Mit dem militärischen Sieg der offiziellen Kirche über die Katharer war also keineswegs religiöse Sicherheit eingekehrt, sondern es blieb ein unverarbeiteter Überhang, eine unabgeschlossene Gestalt in der Psyche der Siegerin. Irgendetwas an der Kirchenkritik der Katharer (Albigenser, Bogomilen) muss wohl berechtigt gewesen und unbeantwortet geblieben sein. Die kumulative Hexentheorie besteht teilweise aus verdrängten Elementen des Katharer-Konfliktes. Das Feindbild von der wohlorganisierten Gegenkirche der Katharer wird auf eine fiktive Hexenzunft übertragen, beziehungsweise: diese Fiktion wird erst erschaffen, vielleicht um den routinierten, kriegerischen Aktionismus fortführen zu können, anstatt sich der religiösen Verdrängung bewusst zu werden. Wo hatten die Katharer Recht und die Kirche ein uneingestandenes schlechtes Gewissen? Welche Träger der herrschenden Kultur gehen auf den Verfolgungstripp? So etwa könnten die Fragen gestellt werden, um das Verdrängte und die damit verbundenen Aggressionspotentiale aufzuspüren.

Der Konflikt zwischen dem Hauptkorpus der mittelalterlichen Gesellschaft und den ausgegrenzten Minderheiten-Gesellschaften

Carlo Ginzburg beschreibt in seinem Buch "Hexensabbat", die Verschwörungstheorie gegen die Leprakranken, die von Carcassonne ausgehend, im Jahr 1321 n.Chr. in vielen Städten Frankreichs zu Massenmorden an den Kranken führten. Die Aussätzigen hätten sich verschworen die Brunnen, Quellen und Flüsse der Gesunden zu vergiften, um diese entweder zu töten oder sie ebenfalls mit Lepra zu infizieren und so alle Menschen gleich zumachen. Auch hätten die Anstifter der Verschwörung bereits Macht und Würden der zu tötenden Herzöge und Barone untereinander aufgeteilt, die Weltherrschaft also fest im Visier. Ginzburg zeigt, wie diese Verschwörungstheorie dann ausgedehnt wurde auf die Juden, auf den König von Granada, auf den Sultan von Babylon und auf eine zusehends abstruser werdende Sammlung weltweiter Bösewichte, die sich gemeinsam zum Ziel gesetzt hätten, die Christenheit zu vernichten. Das Welt bedrohende Böse, wurde in dieser Wahnwelle zuerst verkörpert durch die Lepra-Kranken, dann wurden die Juden dazu genommen, dann die islamischen Reiche. Die Anklagepunkte und Gruselbilder sowie das gesamte paranoide Szenario hat sehr große Ähnlichkeit mit dem späteren Szenario der Hexenverfolgungen und die Bezeichnung "Hexensabbat" für die Feierlichkeiten der Hexenzunft zeigt noch die Vorgeschichte des Wahns im Antisemitismus und im Hass auf die Leprakranken.

Juden und Lepra-Kranke hatten aus Sicht der mittelalterlichen Gesellschaft die Gemeinsamkeit, dass sie relativ abgegrenzte Minderheiten-Gesellschaften darstellten, wodurch sie geeignete Projektionsflächen boten für Misstrauen und Verschwörungstheorien. Und dann wurden diese Muster unter dem Stichwort Hexensabbat in die kumulative Hexentheorie miteingebaut.
siehe Carlo Ginzburg . Hexensabbat. 1990 Verlag Klaus Wagenbach.

Welches Bindemittel hielt die mittelalterliche Welt zusammen und entlang welcher Risse drohte sie auseinander zu brechen? Was war die Gemeinsamkeit der Juden und Lepra-Kranken in der mittelalterlichen Welt, nicht soziologisch, sondern religiös gesehen? Aus welchen kulturellen Burgmauern waren sowohl Lepra-Kranke als auch Juden ausgeschlossen? Jene Textstellen in den Quellen, die den fiktiven Verschwörergruppen Hostien-Schändung und ähnliche Vergehen vorwerfen, werden erst verständlich, wenn die Bedeutung des Abendmahls für die mittelalterliche Welt wahrgenommen wird. Und die Rolle des Abendmahls als gemeinschafts­bildendes Ritual ist zu kurz verstanden, wenn man dabei nur modern an das Gruppengefühl der in der Kirche zur Eucharistie-Feier versammelten Gläubigen denkt. Mittelalter geht anders. Das Abendmahl war nicht nur die rituelle Basis der gesamten (das heißt katholischen) Kirche, sondern es war die rituelle Basis der staatlichen und kollektiv-psychischen Struktur. Alle am Abendmahl Teilnehmenden werden im Ritual zu Gliedern des Leibes Christi und damit zu Partizipanten an der Kultur des christlichen Abendlandes, zu Geschwistern in Christus. Das ist die große Familie des Vaters im Himmel, die alle irdischen Familien, Verwandtschaften, Clans, Stämme und so weiter umgreift. Der Leib Christi ist die große Korporation, die alle Herzogtümer, Nationen, Staaten, Reiche oder was man sonst als Gruppenidentitäten nennen möchte, umfasst und überlagert. Das Abendmahl ist die rituelle Basis für das Vertrauen zu sonst fremden Menschen, Basis für die Urbanisation, Basis für die Grenzen überschreitenden Rechtssyteme. Der gesamte Zusammenhalt der mittelalterlichen Welt hängt am Abendmahl. Lepra-Kranke und Juden sind vom Abendmahl ausgeschlossen. Die einen werden vorallem räumlich getrennt gehalten, um Ansteckungen zu vermeiden, die anderen gehören einer anderen Religion an, Religion nicht im modernen Sinne als private Freizeitaktivität, sondern im mittelalterlichen Sinne, als Basis der Gesellschaft. Dieser Sinn aber war am Zerbröseln. Die rituelle Basis der mittelalterlichen Weltgesellschaft war anscheinend dabei, ihre integrative Kraft zu verlieren. Die Hexenverfolgungen entstehen nicht aus einer stabilen Religion, sondern aus ihrer Erosion.

Wappen der Waldenser, eine brennende Kerze mit der Umschrift: Lux lucet in tenebris. Deutsch: Das Licht leuchtet in der Finsternis

Die Konflikte um die Waldenser

Frühe reformatorische Bewegungen wie die Waldenser wurden nach dem Muster der Katharerverfolgung gejagt, bis hin zum blutigen Massaker an den piemontesischen Waldenser-Gemeinden. Nicht nur in den Folterungen und Verbrennungen werden diese bibeltreuen Christen einerseits den besiegten Katharern und andererseits den fiktiven Hexen gleich gemacht. Die verleumderischen Anklagen, zum Beispiel der Teufelsanbetung in Gestalt eines Ziegenbocks, sind geradezu identisch gegen Waldenser wie gegen Hexen. Sogar die Bezeichnung Vaudoises (Waldenser) wurde direkt auf die Hexenzunft übertragen. Wie gerät so eine fromme Bewegung in dieses Kreuzfeuer?

Wir phantasieren: In den norditalienischen Gebirgstälern begegnen sich die Reste der Katharer und die verfolgten Waldenser und als drittes Element sind die Hexen schon immer vor Ort. Die Dörfer und Gehöfte tragen noch alte, religiöse Traditionen, unbeleckt vom Lauf der Zeit. Vielleicht hielten sich dort sogar schamanistische Praktiken, wie es Carlo Ginzburg für eine andere norditalienische Gegend vermutet. Gab es wirklich soviel Ähnlichkeit oder sogar eine Verbindung zwischen den verschiedenen Marginalisierten? Gab es einen alpenländischen Stammtisch von Katharern, Waldensern und Hexen in einem Wirtshaus an der Via Mala? Sorry, das war jetzt ein bisschen albern. Ende der Phantasterei. Die Gleichsetzung der Verfolgten ereignete sich im Wesentlichen wohl nur in den modernen Köpfen und Büchern der Ideologie treibenden Gelehrten. Und dies geschah nicht in den Gebirgstälern, sondern in den Städten, vielleicht auch in den blühenden, norditalienischen Handelsmetropolen. Die Verschmelzung der drei Feindbilder bis zur Ununterscheidbarkeit zeigt, wie sehr die Verfolger ihren eigenen Theorien nachjagten und wie wenig das tatsächliche Profil der Verfolgten beachtet wurde. Sind die finsteren Gebirgstäler eher die Projektionsfläche für die Ängste und Phantasien der modernen Stadtmenschen? In den Städten brodelt die produktive Kommunikation in Form von Büchern und Flugschriften. Entstehen neue Ideen, besser: Ideologien und Fiktionen, eher an den Universitäten als in verschlafenen Wirtshäusern? Die Wurzeln der kumulativen Hexentheorie liegen nicht in den einsamen Gegenden verlockend wild und wilder, sondern in den Zentren der modernen Entwicklung, aber irgendetwas an der Waldenser-Bewegung scheint die Phantasien der Hexentheoretiker gereizt zu haben. Um einen Ziegenbock ging es dabei wohl weniger, eher war das Armutsideal aus der Bergpredigt Jesu und die daraus ableitbare Kritik am Reichtum, nicht nur dem der Kirche, das besondere Merkmal der Waldenser. Nicht umsonst bezeichnete sich die Bewegung in ihren Anfängen als "die Armen von Lyon".

Der Konflikt zwischen katholisch und evangelisch

Noch weitaus größere praktische Wichtigkeit für die Hexenverfolgung erhielten die refomatorischen Bewegungen aber erst etliche Jahrzehnte später, nämlich nach dem Auseinanderbrechen der mittelalterlichen Welt in der Reformationszeit, als sich die neuen Konfessionen in manchen Gebieten etabliert hatten. Die von keiner der beiden Seiten gewollte Spaltung der Religion erzeugte eine gesellschaftliche Verunsicherung, in der Ängste und Aggressionen keine Grenze mehr fanden. Belegt wird dieser Einfluss durch die regionale Verteilung der Verfolgungswellen. Sowohl in den klar katholischen als auch den klar evangelischen Gebieten brachte die kumulative Hexentheorie nur an einzelnen Hotspots Verfolgungen zu stande. Im katholischen Spanien war im Wesentlichen nur das Baskenland, im evangelischen Norwegen die Finnmark betroffen. Die Zahl der Opfer war an diesen lokalen Hotspots zwar erschreckend hoch, aber die Verfolgungen breiteten sich nicht aus. Auf dem Boden einer stabilen Mehrheitsreligion, egal ob katholisch oder evangelisch, konnte die kumulative Hexentheorie anscheinend nicht Fuß fassen. Der großflächige Brand ereignete sich vielmehr in jenen Gebieten, wo katholische und evangelische Herrschaften kleinteilig nebeneinander lagen. Zwei Religionen unentschieden in direkter Nachbarschaft auszuhalten, war für die Menschen noch eine Überforderung. Wenn Wirklichkeit anders definiert wird, dann ist das eine andere Religion. Konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen verunsichern die Menschen. Und Verunsicherung erzeugt Aggression, Aggression aber sucht Blitzableiter. Die kollektive Verunsicherung durch die Reformation trägt seit dem 16. Jahrhundert einiges zur Anfälligkeit für den Hexenwahn bei, kann aber nicht das Entstehen der kumulativen Hexentheorie im 14. Jahrhundert erklären. Die Waldenser-Bewegung war zwar stark und ausdauernd, aber doch nicht stark genug um das mittelalterliche Weltbild zu erschüttern. Die frühreformatorischen Bewegungen waren nicht Ursache, sondern eines der Symptome für das Auseinanderbrechen der mittelalterlichen Welt. Eine andere Wirklichkeits­verunsicherung muss es gewesen sein, von der die frühneuzeitlichen Gelehrten in den Wahn getrieben wurden.

Die Religion sei schuld am Hexenverfolgungswahn

Die bisher genannten Konfliktlinien entstammen der Religion und ihre Betrachtung könnte zugunsten des üblichen Trugschlusses benutzt werden, die Religion sei schuld am Hexenverfolgungswahn inklusive Umkehrschluss: Nicht-Religiosität sei die Rettung vor solchem Wahn. Diese Illusion einer Rettung durch Nicht-Religion wird unter anderem dadurch fraglich, dass die nicht-religiöse Neuzeit noch etliche weitere mörderische Wahnsysteme hervorgebracht hat. Der Wahn tobt weiter in unterschiedlichen Gestalten. Die Wahnwilligen erfinden statt einer Hexenzunft halt andere Reiche des Bösen. Rassismus, Kolonialismus, Ableismus, Nationalismen usw. schufen ähnliche, ideologische Begründungen, um andere Menschen abzuwerten, zu verteufeln und zu zerstören. Man braucht keine Religion dafür. Die Hexenverfolgungen waren nur der Anfang der Neuzeit. Die später durch die Aufklärung vermeintlich vollbrachte Befreiung von Aberglaube und Religion, hat zum Beispiel die fundamentale Sündenbockdynamik keineswegs beseitigt. Auch alle anderen Probleme, eine für alle Menschen vertrauenswürdige Gesellschaft zu schaffen, sind ungelöst.

Die Aggressionspotentiale im Frühkapitalismus der norditalienischen Städte

In den norditalienischen Städten war die wirtschaftliche Entwicklung am weitesten in Richtung Moderne fortgeschritten. Buchhaltungstechnik, Bankwesen, Wucher und Hortung von Reichtümern machten aus diesen Städten frühe Hochburgen des entstehenden Kapitalimus, dem die traditionelle christliche Verpflichtung zu Nächstenliebe vielleicht als eine unerträgliche, moralische Fessel erschien. Die Palazzos der konkurrierenden Kaufmannsfamilien waren Festungen innerhalb der Stadtmauern. Clan-Zugehörigkeit war mächtiger als Bürgerrechte und die Zockerei mit gigantischen Summen von Goldflorin versetzte die Reichen in Erregung und auch in Angst. Kriege mit wechselnden Fronten und riskanten Finanzierungen waren dauernde Erfahrung. Atemberaubende Aufstiege und Abstürze von schier allmächtigen Handelshäusern degradierten alle staatlichen und kirchlichen Hierarchien zur Nebensächlichkeit. Die hochheiligen Würdenträger wurden zu leicht käuflichen Spielfiguren im großen Monopoly. Die Weltordnung wurde weggespült von den Finanzströmen und die vielfach erlebte Entwertung jeder Moral erzeugte den Zynismus: Nur der Erfolg zählt. Die Wiederentdeckung der Antike und ihre Wiedergeburt (Renaissance) hatten auch darin ihre Wurzeln. Für die Destabilisierung des mittelalterlichen Wirklichkeitsgefüges war diese wirtschaftliche Entwicklung der vielleicht heftigste Faktor. Zuverlässige Moral und das Vertrauen in eine allgemeingültige Wirklichkeit hängen psychisch und gesellschaftlich sehr eng zusammen. Der rasant ansteigende Reichtum besonders in den oberitalienischen Städten hebt die mittelalterlichen Konstruktionen der Wirklichkeit aus den Angeln.

Konfliktgebiet Geschlechterkrieg. Was produziert die geschlechtspezifische Körpersprache?

Eher als Frage, noch ein letztes Konfliktgebiet: Der Geschlechterkrieg. Die Hexenverfolgung ist die aussichtsreichste Kandidatin für den Ursprung der modernen geschlechtsspezifischen Körpersprache. Nicht in der Antike und nicht im Mittelalter gab es diese tiefgehende Art der Frauenunterdrückung, die von Marianne Wex mit ihren Fotoreihen aufgedeckt wurde. Wie war das Spätmittelalter gegendert? Von woher kommt der Frauenhass in die kumulative Hexentheorie und welche soziale Bedeutung tragen ihre sexuellen Elemente?

Traumata der Vergangenheit sind Gefahren für die Zukunft

Das Trauma der großen Hexenverfolgungen erfordert eine sorgfältige Aufarbeitung, ohne dabei die anderen Traumata zu verdecken. Die großen Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit sind eine andere und sehr viel mehr Besorgnis erregende Sache als aller "Aberglaube" des Mittelalters. Was irgendwo in der Frührenaissance geistig vorbereitet wurde und sich im 16. und 17.Jahrhundert dann abspielte, war etwas neues und ungeheuerliches, dessen Ursprung bis heute nicht wirklich entschlüsselt ist.

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Hexen und Wissenschaft Teil 8
Die Macht der Mythomanen
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