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Hexen-und-Wissenschaft

Gegen manche Klischees von Hexenwahn und für die multiperspektivische Analyse der Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit / Teil 2 /  Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2020aug21

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Hexen und Wissenschaft Teil 2
Das Spiel mit der Angst

Hinter dem Schleier aus Brutalität und Verblendung liegt der Zauber das Mittelalters. Den wahrzunehmen mag später hilfreich sein, aber zuerst brauchen wir ein paar nüchterne Tatbestände, brauchen das grobe Material des Schleiers, der die Sicht versperrt.

Keine Hebammen, keine Kräuterweiblein, keine alte Religion?

Bei den neuzeitlichen Prozesslawinen ging es nicht mehr darum, ob die Angeklagte irgendwem einen Hexenschuss angehext hatte. Solche Fragen waren jetzt nur noch das Vorspiel zum eigentlich interessanten Teil: Wen hast Du beim Hexentanz getroffen? Das war die wichtige Frage, mit der der Hexenkommissar sein zukünftiges Einkommen sichern konnte. Ob eine Frau irgendwelche Heilkräuter kannte, oder vielleicht sogar eine Anrufungsformel für eine heidnische Göttin, oder ein altes Zauber-Ritual, das wäre für die neuen Hexenjäger höchstens noch ein "nice to have" gewesen, vielleicht nicht einmal das. Was nicht ins Schema passte war uninteressant oder gar störend, auf jeden Fall war es nicht mehr wesentlich für den weiteren Prozessverlauf.

Statt Schadzauber eine Anzeige

Es war eine neue Zeit angebrochen. Wer einem anderen Menschen schaden wollte, brauchte dafür kein Hühnerblut und keine Hühnerklaue. Viel effektiver war eine kleine Anzeige. Zum Beispiel so: Nach einem Hochzeitsgelage in Esslingen haben mehrere (ungenannt bleibende) Gäste behauptet, sie hätten eine Frau auf dem Dach spazieren gehen sehen und als man sie suchte, sei sie plötzlich verschwunden gewesen, stattdessen sei eine schwarze Katze durch's Fenster herein gesprungen. Eine Frau namens Berchta Bul war die Verdächtige, denn sie war einer Einladung nicht gefolgt. Die Anzeige wirkte. Berchta Bul wurde verhaftet. Vom 13. August 1562 an war sie vier Monate in Haft und wurde mehrfach gefoltert. Nur weil sie in allen Torturen standhaft blieb, und auch keine weiteren Zeugen gegen sie auftauchten, wurde sie am 16. Dezember schließlich frei gelassen. schwarzer Rabe Der Wundarzt Georg Funk aus Tübingen könnte der Denunzianten-Anstifter beim Festgelage gewesen sein. Die traditionelle Erklärung, Berchta Bul sei mit ihrer Heilkunde eine Konkurrentin im medizinischen Geschäft gewesen, schien naheliegend, aber nur bei oberflächlicher Lektüre der Prozessakten. Die Stichworte "heilkundig" und "Wundarzt" würden gut in die alte Erklärungsweise passen. Beim genaueren Hinsehen ging es dem Wundarzt aber viel eher darum, seinen neu erfundenen Hexen-Test-Trank auszuprobieren. Dazu hatte er die schon früher der Hexerei verdächtigte Berchta Bul eingeladen. Ihre Weigerung, als Versuchskaninchen für den Herrn Hexentrankerfinder aufzutreten, hatte dann zu jener Denunziation beim Festgelage geführt. Berchta Bul war als unfreiwillige Testperson in sein Forschungs-Visier geraten. Als der Test später mit der Verhafteten nicht funktionierte, verlor der Wundarzt das Interesse an der Hexenjagd.
Genaueres dazu gibt es bei Elmar Lorey: Die "Wahrheitsdroge" im Hexenprozess?, dort im Abschnitt 3 "Der Esslinger Fall von 1562". Lorey bezieht sich auf Karl Paff: Die Hexenprozesse zu Eßlingen im 16. und 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte (ZDtKG) Bd 1, 1856, S.257f..

Viele Akteure mit unterschiedlichen Interessen

Die Hexenjagden des 16. Jahrhunderts waren intrigante Machtkämpfe, an denen sich unterschiedliche Akteure beteiligten:
Der Landesherr wenn er seine Untertanen disziplinieren wollte,
die kleinen Leute wenn sie wütend waren auf die Missernte oder auf die Nachbarn,
die Geistlichkeit wenn sie mit Hetzpredigten Beifall ernten konnte,
die Juristen wenn sie mit Hexenprozessen Karriere machen konnten,
die Folterknechte und Kommissare waren auf jeden Fall dabei, es war ihr Job.
Die Mischungsverhältnisse der Aggression waren von Ort zu Ort unterschiedlich. Hexenjagd war eine leicht verfügbare Waffe, für jede*n und gegen jede*n. Bei den Opfern überwogen die Frauen; bei den Denunziationen auch.

Hexenjagd als ein sich selbst perpetuierendes Spiel mit der Angst

Bei diesen neuen Hexenjagden konnte jede und jeder zum Opfer werden, egal wie christlich, egal wie heidnisch, egal wie "bezaubernd", egal wie unschuldig jemand sein mochte. Die alten Hexereivorwürfe waren nur noch Teil einer verfügbaren Schablone, mit deren Hilfe fast jede beliebige Person zur Zielscheibe gemacht werden konnte. Die kollektive Aggression beruhigte sich nicht mehr am geopferten Sündenbock, sondern die im Verfahren ausgeübte Brutalität verstärkte die Mischung aus Angst und Hass, weil jede*r der nächste Sündenbock sein konnte. Die Angst vor den Hexen und die Angst, selber zur Hexe gemacht zu werden, gingen ineinander über und waren von außen kaum noch unterscheidbar.

Katholisches Hochstift oder evangelische Handelsstadt

Im katholischen Hochstift Bamberg wurden wohlhabende Bürger verbrannt, solange das Hochstift das Eigentum der Hingerichteten bekam. In den "Spitzenjahren" 1612/1613 und 1617/1618 wurden in diesem kleinen Territorium 300 Menschen verbrannt, insgesamt starben dort rund 1000 Menschen wegen angeblicher Hexerei. Ähnlich wütete der Wahn in Würzburg und Eichstätt sowie in Kurmainz und Ellwangen. Der Brief des Bamberger Bürgermeisters Johannes Junius ist sehr lesenswert. Dieser Bürgermeister ist der Gejagte.

In der evangelischen Stadt Lemgo ist Bürgermeister Cothmann der Jäger und agiert genauso brutal wie die katholischen Hochstifte. Und Cothmann wird von den "freien" Bürgern Lemgos immer wieder gewählt, wahrscheinlich aus Angst. Ob aus Angst vor Hexerei oder aus Angst vor Cothmann ist die Frage. Denn die Wahlen sind öffentlich, Cothmann sieht, wer gegen ihn stimmt. Von seinem Ratsherren Hilmar Kuckuck, Stellvertreter des Bürgermeisters, ist das Zitat überliefert: "Wir müssen noch 14 Personen weghaben, ehe wir aufhören. Sonst kriegen wir selbst einen Prozess an den Hals." Die Hexerei-Anklagen waren hier hauptsächlich blutige Macht-Politik.

Ist das Gruseln ein Instrument der Jäger, oder sind die Jäger Instrumente des Grusels?

Alle Gruselgeschichten von den bösen Hexen sind in dieser neuen Zeit vielleicht nur noch Stimulatoren zum weiteren Anheizen von Angst und Hass. Ihr Inhalt ist nur noch ein Schema und die Protokolle der Folterverhöre werden zur Fortsetzung der Gruselgeschichten. Das Prozess-Schema - die Hexenjäger-Ideologie - lässt sich zurückverfolgen bis in die Westschweiz. Eventuell gibt es Vorformen davon in Norditalien.

Hirngespinst nach Clifford Geertz

Je mehr Quellen ausgewertet werden, desto stärker tritt die Unterscheidung zutage, die Unterscheidung zwischen alter, religiöser Hexenvorstellung und frühneuzeitlichem Hexenwahn, genauer gesagt Hexenjägerwahn, denn die Jäger waren die Wahnsinnigen. Das Wort Wahn ist hier nicht als Bezeichnung einer individuellen Geisteskrankheit gemeint, sondern eher im Sinne des Anthropologen Clifford Geertz. Geertz schreibt: "... der Mensch ist ein Lebewesen, das in selbst gesponnenen Bedeutungsgeweben lebt. Diese Gewebe heißen Kultur." Kultur ist ein harmloseres Wort für Wahn. Welche dieser Bedeutungsgewebe den Menschen gut tun und welche mörderisch werden, ist eine große Frage. Der Glaube mancher Menschen, sie würden ohne irgendein Gespinnst direkt in der "Wirklichkeit" leben, ist eben auch nur ein Glaube, alias Gespinnst, und was ist die Wissenschaft?

Wenn die Kultur aus dem Ruder läuft

Das gute Miteinander ist ein großer Auftrag der Kultur. Die Gesellschaft soll und muss korrigierend eingreifen, wenn ein Einzelner sich unmoralisch oder gar kriminell verhält. Weniger bewusst ist vielen Menschen, dass nicht nur das Tun, sondern auch die Wahrnehmung gesellschaftlich gestaltet wird. Die Gesellschaft hilft dem Einzelnen zurecht, nicht nur wenn er sich "falsch" verhält, sondern auch wenn er die Wirklichkeit "falsch" wahrnimmt. Gemeinsam wird das Bild von Wirklichkeit gestaltet. Was Clifford Geertz hermeneutisch als unser Gespinnst tituliert, bezeichnet Michel Foucault weniger metaphorisch als Diskurs und Praxis der Gesellschaft. Beide Benennungen helfen zu der Ahnung, dass jede Gesellschaft ihre Wirklichkeit selbst produziert und auch relativ gefangen ist in diesem elastischen Kokon. Diese Gemeinsamkeit ist ein Balance-Akt. Die Interessen der Einzelnen, der Gruppen und der Organisationen so zu verknüpfen, dass für alle ein gutes Umfeld entsteht ist eine schwierige Kunst. Wenn ein Einzelner Gespenster sieht und Stimmen hört, die von den anderen nicht wahrgenommen werden, wie geht dann die Gesellschaft damit um? Nutzen wir die abweichende Wahrnehmung als Prophetie, als Erweiterung der eigenen Wahrnehmung in fremde Welten? Oder verbieten wir dem Spinner, der Spinnerin davon zu reden? Machen wir den zum Schamanen oder sperren wir ihn in eine Irrenanstalt? Welche Erzählungen von anderen Welten lassen wir uns gefallen, zur Unterhaltung, zur Orientierung, zum Gruseln? Die Frage ist weder harmlos noch egal. Wurde eine Krankheit durch Hexerei gemacht oder vom GenTec-Labor? Stammt das Unwetter aus dem Kochtopf böser Menschen oder von den Abgasen der Autos? Sind die Hexen schuld an allem Übel oder die Juden oder Kommunisten oder die Religionen? Sorgen die Homöopathen für eine niedrige Impfquote oder sind da noch andere Kräfte am Werk? Was ist Verschwörungstheorie und was ist seriöse Wissenschaft? Die Aussage der Verdächtigen kann falsch sein oder wahr. Wie soll die Gesellschaft das entscheiden? Nach welchem Beweisverfahren wird festgestellt, was wirklich ist? Nicht nur für die Rechtsprechung ist gemeinsam gültige Wirklichkeit unerlässlich, sondern auch die Psyche der Menschen braucht eine vertrauenswürdige Grenze gegen das Überborden der Gefühle und Phantasien. Die Gesellschaft der frühen Neuzeit wusste nicht mehr, was wirklich ist. Ehemals stabile, mittelalterliche Gespinnst-Teile wurden zum manipulierbaren Material neuer Interessen. Nicht nur die mitmenschliche Moral, sondern die gemeinsame Wirklichkeit ging in der frühen Neuzeit verloren. Die Hexenverfolgungen geben ein Bild von kollektivem Wirklichkeitsverlust. Unsere heutige Sicht von Wirklichkeit den damaligen Menschen nahezulegen, ist etwa so, als würden wir dem damaligen Schreiner sagen: Nimm doch die elektrische Bohrmaschine.

Kollektiver Wirklichkeitsverlust

Die Bilder von den Hühnerklauen im Wald von Salvador da Bahia könnten sich so oder so ähnlich in fast jeder Kultur und fast jeder Zeit abspielen, und die Angst vor Schadenzauber findet sich in fast allen Kulturen, aber die modernen Hexenjagden bilden eine neue und andere Qualität. Die Arbeit der Wissenschaft hat diesen Unterschied deutlich gemacht, aber die Kluft zu den Hexenbildern in der populären Kultur zeigt, dass die Klischees nach wie vor virulent sind. Die Wissenschaftler*innen beklagen zurecht die Kluft zwischen ihren Erkenntnissen und den populären Hexenbildern. Die Mythomanien behaupten sich zählebig gegen das wissenschaftliche Bild der Hexenverfolgungen. Vielleicht steht hinter dieser Zählebigkeit doch mehr als nur ein Mangel an Bildung.

Die pure Kenntnis des wissenschaftlichen Forschungsstandes reicht offenbar nicht aus, die verschiedenen Arten des Wahns - hier sind jetzt die Mythomanien gemeint - aufzulösen. Die Entwirrung der Linien ist dank der Wissenschaft ein paar Schritte vorangekommen, aber zuviele Konflikt­linien sind noch ineinander verwoben, zuviele Traumata noch ungeheilt. Insbesondere die weit verbreiteten Vorurteile gegen das Mittelalter stehen einer Aufklärung über die Neuzeit im Wege. Um sich in der Moderne wohl und sicher fühlen zu können, werden von möchtegern­aufgeklärten Menschen alle Unwohl- und Unsicherheits-Faktoren aus unserem Zeitalter hinaus­gewiesen und dem Mittelalter in die Schuhe geschoben. Leider spielten sich die großen kollektiven Wirklichkeitsverluste aber vorzugsweise in der Moderne ab.

Es gab keine Hexen?

Spinnt man den Faden jener wissenschaftlichen Hexenforschung von vor ein paar Jahrzehnten zu Ende, dann gab es keine Hexen, sondern nur Verleumdungsopfer. Wer bei den großen Verfolgungswellen auf dem Scheiterhaufen endete, musste vorher in keiner Form mit Hexerei irgendetwas am Hut gehabt haben. Demnach wäre Hexerei nur eine Fiktion in den Köpfen der Hexenjäger gewesen. Für die allermeisten Opfer und für die allermeisten Täter*innen im 16. und 17. Jahrhundert mag das sogar stimmen. Die Wissenschaft war fast schon dabei eine hexenfreie Welt zu erzeugen. Das war ein Angriff nach mindestens zwei Seiten: Sowohl auf die Denkwelt der Hexenverfolger, als auch auf die Denkwelt derer, die vielleicht Hexen sein wollen oder wollten. Wicca-Kult und Freizeit-Hexen, was ist das Faszinierende, was ist der Lebensfaden dieser anderen Gespinnste? Nicht geklärt ist die Frage, ob Reste der älteren, vor-neuzeitlichen Konfliktlinie von Schadenzauber und der Angst davor, doch noch weiter bestanden oder bestehen. Auch noch nicht so ganz geklärt ist die Entstehung der Fiktion in den Köpfen der Hexenjäger. Worin besteht die Kraft der heute fortdauernden Mythomanien? Das diverse Sorten von Magie zum Dorfleben gehörten, wurde dann doch in den Untersuchungen wahrgenommen und an manchen Stellen der Prozessprotokolle passten die Aussagen der Beschuldigten nicht ins Jagd-Schema, sondern erzählten von irgend etwas anderem. Da gibt es noch Geistesaktivitäten jenseits der Machtstrategien. Da gibt es noch Spuren vielleicht von Religion.

Die erstaunliche Hexenfreiheit des Mittelalters

Nur sehr vereinzelt waren im Mittelalter Hexen verbrannt worden, vielleicht eine pro Jahrhundert in ganz Europa. Und Giftmorde wurden wohl nicht unterschieden von Hexerei, sondern unter dieser Anklage abgehandelt. Da waren keine finster-fanatischen Kapuzenmönche im angeblich so abergläubischen Mittelalter, die kamen erst in Gestalt des Kukluxklan in der Neuzeit. Da war kein Lynchmob bewaffnet mit Sense, Mistgabel und Kruzifix. Solche antichristlichen Schmähbilder sind Klischees ohne historische Wahrheit. Wenn aber schon längst im Mittelalter die "Aufklärung" gelungen war, Hexenreiterei sei nur eine Halluzination, woher kommt dann der Rückfall der tatsächlichen Hexenjäger in frühere, vor-mittelalterliche Ängste? Die Jahrhunderte des Mittelalters hatten schon viele Arten von Aberglauben - oder was moderne Menschen dafür halten - stabil in der Kultur, in der Psyche und im Rechtssystem verpackt, bzw. eingesponnen. Wie konnte diese Stabilität verloren gehen? Griechische und römische, keltische und germanische Gruselgeschichten samt ihren heidnisch-magischen Ritualen hatte das angeblich finstere Mittelalter in seine christliche Religion integriert. Wie machten die das ohne Scheiterhaufen? Auch ohne moderne, naturwissenschaftliche Weltsicht, hatte das Mittelalter erstaunlich viel Imunität bewiesen gegen jedwede Hexenangst. Woraus bestand diese alte Imunität? Und woraus der neue Virus? An welcher Stelle der Geschichte wurde die mittelalterliche Stabilität des Wirklichkeitsbildes über Bord geworfen? Jede wissenschaftliche Erklärung der Hexenverfolgungen taugt nur etwas, wenn sie die weitgehende Nicht-Verfolgung von Hexen im Mittelalter miterklärt.

Diagramm Kleine-Eiszeit, rekonstruierte Temperaturen im Vergleich einiger Methoden, ccbysa Robert A. Rohde

Diagramm: Kleine Eiszeit. Mit verschiedenen Methoden rekonstruierte Temperaturen. Robert A.Rohde cc-by-sa

Die "kleine Eiszeit" als klimatische Erklärung

Die sogenannte kleine Eiszeit bereitete der frühneuzeitlichen Landwirtschaft erhebliche Probleme. Die mit ihr einhergehenden Teuerungen und Hungerjahre sind tatsächlich eine wichtige wirtschaftliche Ursache für die großen Wellen der Hexenverfolgungen. Und es waren nicht nur "wirtschaftliche" Probleme im modernen Sinne, sondern das Klima wurde damals als Teil der göttlichen Weltordnung erlebt, entsprechend apokalyptisch waren die Ängste, die von der kleinen Eiszeit ausgelöst wurden. Diese Klimaschwankungen erklären zwar die blank liegenden Nerven der Bevölkerung, die Wettereinbrüche und Missernten waren sicher ein Antrieb für die Suche nach Sündenböcken, aber all das wurde erst Ende des 16.Jahrhunderts bedrohlich. Selbst die frühen Ausläufer der kleinen Eiszeit um 1470 n.Chr. können nicht als Ursache für den Hexen-Wahn gelten. Diese Kälteeinbrüche kommen erst eine Generation nach den frühen Hexentheoretikern: Claude Tholosan, Ut magorum et maleficiorum errores (1436), Ponce de Feugeyron, Errores Gazariorum (1436/37), Johannes Nider, Formicarius (1437), Alfonso Tostatus, De maleficis mulieribus, que vulgariter dicuntur bruxas (1440). In der Frührenaissance wurde das geistige Gift gebraut, Jahrzehnte bevor die Unwetter und Hagelstürme einsetzten. Die Frührenaissance war eine blühende Kultur, viel gerühmt für Kunst, Dichtung und Wissenschaft. Da fängt die Neuzeit an.

Bewusst und organisiert

Von meiner Oma in einem Dorf im Nordschwarzwald habe ich als Kind den folgenden Spruch gelernt:

Hobbe, hobbe, Ressle,
z'Schdurgard schdoht a Schlessle,
z'Schdurgard schdoht a Doggehaus,
do guggat drei Mariele raus.
Die oa schbennd seidhär.
Die ander schbennd weider.
Die dridde draid an rauda Rogg
un reided uff am Zoddelbock.

Versuch einer Übersetzung: Spring, spring Rösslein, zu Stuttgart steht ein Schlösslein, zu Stuttgart steht ein Puppenhaus, da gucken drei kleine Marien raus. Die eine spinnt seither. Die andere spinnt weiter. Die Dritte trägt ein rotes Kleid und reitet auf einem zotteligen Ziegenbock.

Die von meiner Oma gelernte Form erscheint mir besser als die in Stuttgart bekannte: Da heißt es nur "Nonnenhaus", bei meiner Oma lernte ich "Dockenhaus". Eine Docke ist eine Puppe, ein Kinderspielzeug, oder darf ich weiter spinnen: eine Zauberpuppe, oder vielleicht könnte es auch eine kleine Statue sein, eine Götterstatue? Gibt es nicht in Stuttgart eine Stelle, die Doggenburg heißt? Ich weiß nichts darüber, es ist nur eine Etymogelei meinerseits, ein Gespinst.

Hätte ich sie damals fragen können: "Liebe Oma, welche Art von matriarchaler Dreiheit meinst Du mit diesem Vers? Nimmst Du etwa teil am Matronenkult oder redest Du von den Nornen oder gehörst Du zu einer Mysterienreligion?" Dann hätte meine Oma mich völlig verständnislos angeguckt. Sie gehörte zu keinem Wicca-Coven und wusste nichts von Matriarchat, sondern ging Sonntags in die Kirche (evangelisch) und ab und zu in die "Stund'" (pietistisch). Es war einfach nur ein Kindervers, den sie ihren Enkeln weitergab. Bewusstheit und Organisation können manchmal wichtig sein, aber da liegt nicht unbedingt das religiöse Potential. Der breite Strom der Religion fließt größtenteils im Unbewussten und Inhalte haben ihre eigene Macht.

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Hexen und Wissenschaft Teil 3
Werwolf freundliches Mittelalter

Im Wald von Osraige kommuniziert ein Priester mit einem freundlichen Werwolf-Pärchen. So lieb können Werwölfe sein.

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