Die Bedeutung der Religion für die neolithische Revolution / Teil 2 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2019apr08
So sprach Klaus Schmidt, der Ausgräber von Göbekli Tepe, und brachte damit die Umwälzung der archäologischen und geschichtlichen Denkweise zur neolithischen Revolution auf den Punkt.
Der enorme Veränderungsschub von der Jäger-und-Sammlerinnen-Kultur zur neuartigen Lebensform des sesshaften Ackerbaus wurde lange Zeit als rein technische Errungenschaft verstanden. So als hätten die Sammlerinnen und Jäger zufällig entdeckt, dass Körner in den Erdboden gedrückt, übers Jahr neue Pflanzen wachsen lassen. Bei dieser Entdeckung wäre ihnen auch alsbald der praktische Nutzen klar geworden, dass mit Saat und Ernte die Nahrungsmittelproduktion so angekurbelt werden könnte, dass ein weiteres Umherstreifen auf der Suche nach Jagdbeute und Körnersammelgebieten nicht mehr nötig sei. "Jetzt können wir endlich feste Häuser bauen und sesshaft werden", hätten sich demnach die Jäger und Sammlerinnen gesagt, als wäre das ihr dringendstes Bedürfnis und die naheliegendste aller Ideen gewesen.
Bei diesem Verständnis der neolithischen Revolution, werden moderne Denk- und Verhaltensweisen in die Vergangenheit projeziert. Nicht ganz ernsthaft: Vermutlich war es die Jäger-&-Sammler-Gruppe "Max-Planck & Daniel Düsentrieb" die nach jahrelangen Forschungen endlich den Trick mit dem Körner im Boden versenken herausfand und mangels eines Patentamtes die Verbreitung ihrer Idee unter konkurrierenden Gruppen nicht verhindern konnte. Und den dringenden Wunsch nach Blockhütten und Ziegelsteinhäusern hatten gemäß dieser Vorstellung wohl sowieso alle Jäger und Sammler-Gruppen im Reisegepäck.
Gucken wir uns den Geschichtsverlauf bei diesem Erklärungsmodell ein bisschen ernsthafter und der Reihe nach an:
1. Kleine umherstreifende Menschengruppen auf der Kulturstufe der "Jäger und Sammler" leben vom Fleisch erjagter Tiere, Würmer, Maden usw., sonst aber hauptsächlich von Samenkörnern, die sie beim Umherwandern von den wildwachsenden Gräsern abstreifen, dazu von wilden Beeren, Blättern und Wurzeln oder was sie sonst an essbaren Pflanzenteilen finden.
2. Dabei bemerken sie zufällig, dass an einer Stelle, wo sie letztes Jahr Körner verstreuten oder in den Boden drückten, dieses Jahr mehr Pflanzen von eben dieser Sorte wachsen.
3. Sie gewöhnen sich das Körnerstreuen an, so entstehen erste kleine Äckerchen, die Jahr für Jahr wieder besucht und abgeerntet werden.
4. Die Nahrungsgrundlage mit diesen Saatgebieten wird so gut gesichert, dass die Gruppen länger an einem Ort bleiben können und dort dann auch bessere Hütten bauen, als nur die bisher üblichen kleinen Übernachtungsstellen.
5. Mit der Zeit entstehen so Siedlungen mit Ackerbau treibenden Bäuerinnen und Bauern. Die Siedlungen wachsen zu Städten.
6. Die sesshaft gewordenen Gemeinschaften, mit ihren um den Ackerbau kreisenden Gedanken, erfinden eine Göttin "Mutter Erde" als Fruchtbarkeitsreligion.
7. Sie bauen für diese "Mutter Erde" schließlich imposante Tempelanlagen, als übersteigerte Form ihrer eigenen Bauernhäuser. Fertig ist die Religion.
So wäre es nach dem früher gängigen Geschichtsverständnis gewesen: Die neolithische Revolution entstand durch eine zufällige, rein technische Erfindung des Säens. Irgendwann später erfinden sie eine Religion der "großen Mutter Erde". Ackerbauern, die schon längst wissen, wie Saat und Ernte technisch funktionieren, hätten ihren Äckern eine religiöse Interpretation gegeben. Die religiöse Entwicklung wäre demnach eine nachträgliche Verbrämung einer bereits vollzogenen Entwicklung. Der Tempelbau wäre der Abschluss der neolithischen Revolution.
Spätestens seit den Ausgrabungen von Göbekli Tepe ist dieses Geschichtsverständnis hinfällig. "Der Tempel war vor der Stadt" sagte Klaus Schmidt und das war noch eine vorsichtige Formulierung, voller Rücksichtnahme auf die alte Denkweise.
Religionslosigkeit ist höchstwahrscheinlich eine Erfindung der Neuzeit. Ihre Projektion auf frühere Kulturen erzeugt Anachronismen. Wer frühere und andere Kulturen verstehen möchte, muss in den meisten Fällen Religion mitdenken.
Der Tempel von Göbekli Tepe war vor dem Ackerbau. Die neolithische Revolution startet aus der Religion. Das ist die Zumutung an den religionsvermeidenden Teil seiner Kollegenschaft, die Klaus Schmidt so vornehm vorsichtig formulierte.
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Zuerst kam der Ackerbau, am Anfang noch ganz klein als die quasi beiläufige Erfindung der Saat. Die Jäger und Sammlerinnen hätten bemerkt, dass an den Stellen, wo versehentlich ein paar Körner fallengelassen worden waren, im nächsten Jahr mehr Pflanzen dieser Sorte wuchsen. Diese Beobachtung hätten sie sich dann zunutze gemacht und halt öfter mal ein paar Körner fallen lassen. Mit dieser Erfindung des Ackerbaus verbesserte sich im Laufe der Jahre und Jahrhunderte die Nahrungsversorgung. Die Menschen mussten nicht mehr weit umher streifen auf der Suche nach essbaren Beeren und jagdbarem Wild, sondern konnten sich neben ihrem Acker eine Hütte bauen. Sesshaftigkeit wäre demnach der zweite Schritt nach dem Ackerbau. Ob die Viehzucht vor dem Ackerbau denkbar wäre oder erst nach der Sesshaftigkeit, ist für diese Reihenfolge zunächst weniger wichtig, stünde aber für andere Kulturentwicklungsfragen zur Diskussion. Die nun sesshaften Ackerbauern brauchten Techniken der Vorratshaltung für die geernteten Körner und ihre Weiterverarbeitung. Das Brennen von keramischen Gefäßen wurde entwickelt. Tongeschirr, das wegen seines Gewichts für umherstreifende Wildbeuter ziemlich unbequem gewesen wäre, gewann zusehends praktische Bedeutung in den Hütten und Dörfern der Sesshaften. Und ein paar tausend Jahre später würden sich die Brennöfen der Töpferei dann als gute Vorstufe für die Schmelzöfen zur Metallgewinnung erweisen. Der ganze Dreier-Schritt Ackerbau-Sesshaftigkeit-Töpferei war nach dieser Betrachtungsweise eine logische, ganz auf das praktische Überleben abzielende Entwicklung. Dieses Modell hatte den Vorzug, dass die Abfolge der neolithischen Revolution ganz simpel und pragmatisch gedacht werden konnte. Niemand musste sich spekulativ mit den religiösen Vorstellungen jener Menschen beschäftigen. Jeder einzelne Entwicklungsschritt bot einen Überlebensvorteil, und eben darin wurde und wird bis heute meistens das Grundmuster des wissenschaftlichen Erklärens von geschichtlichen Entwicklungen gesehen. Die Religion kam nach dieser Vorstellung ganz am Schluss als Sahnehäubchen obendrauf: Die sesshaften Bäuerinnen und Bauern empfanden beim Verspeisen der frisch geernteten Körner eine tiefe Dankbarkeit für die Erde, die ihnen diese Köstlichkeiten geschenkt hatte. Die archäologischen Funde könnten als kleine Korrekturen in dieses Bild eingebracht werden: Dann waren es nicht die Körner die dankbar gekaut wurden, sondern es war frisch gebackenes Brot, denn Mahlsteine finden sich schon vor dem Ackerbau. Oder es war frisch gebrautes Bier, das den Anlass zur Religionsentwicklung bildete, denn manche in den Felsen geschlagene Löcher werden als "Braustätten" interpretiert. "Das Bier war vor dem Brot" könnte in scherzhafter Anlehung an Klaus Schmidt's berühmten Spruch vom ersten Tempel gesagt werden. Die Nahrungsaufbereitung wurde schon beim Wildgetreide weiterentwickelt, nicht erst als der Ackerbau erfunden war. Egal ob Körner, Brot oder Bier, beim dankbaren Verzehr der produzierten Nahrung könnten die Gefühle entstanden sein, aus denen dann die Religion wurde. Die Nahrung spendende Funktion der Erde wäre demnach der Grund gewesen, sie zu verehren und aus ihr schließlich die große Göttin zu machen, die Magna Mater, in der sie dann in den neolithischen Kulturen rund um den Globus in unzählichen Variationen vorgefunden wird. Die Erde gibt Nahrung, wie die Menschenmütter ihre Kinder säugen und die Muttertiere ihre Jungen. Die Empfindungen der Bauern für die von ihnen bebaute Erde hatten demnach Ähnlichkeit mit dem Empfinden der Kinder ihren Mamas gegenüber. Und diese Ähnlichkeit des Empfindens hätte zur Personifizierung der Ackererde in Gestalt einer universalen Mutter geführt. Die Erde wird so zu der großen Mutter, die alle Menschen als ihre Kinder versorgt.
Neolithische Göttinnen
"Göttin auf Leopardenthron" aus Çatalhöyük, Türkei / etwa 7500 bis 5700 v. Chr. / Foto von Wikipedia-User Roweromaniak, Lizenz: cc-by-sa-2.5
"Muttergöttin" aus Sha'ar HaGolan, Israel / Yarmukian-Kultur, etwa 6000 v.Chr. / Foto von Wikipedia-User Yaels, Lizenz: Creative Commons Attribution 3.0 Unported
"Frauenstatuette" aus Hacιlar Höyük, West-Anatolien, Türkei / etwa 7000 bis 5000 v.Chr./ Foto von Andreas Praefcke, Lizenz: gemeinfrei cc0
Collage von Harald Küstermann, Lizenz: CC-BY 4.0
Nach dieser traditionellen Reihenfolge der neolithischen Revolution wären längst Häuser, Dörfer und Städte gebaut gewesen, bis dann irgendwann später endlich die Idee hätte aufkommen können, auch für die Große Göttin ein Haus zu bauen: Die Erfindung des Tempels. Tempelbauten wären demnach der Abschluss gewesen des ganzen sich über tausende von Jahren hinziehenden Prozesses der neolithischen Revolution.
Wenn die Vorstellung von der Mutter Erde als Göttin gebunden wird an die Erfindung des Ackerbaues und wenn diese Religion nichts weiter war als die Gefühle der Ackerbaukulturen, dann darf es keine Rückschlüsse geben von der neolithischen Religion in die Zeiten der Jäger-und-Sammlerinnen.
Völlig abgeschnitten von den neolithischen Erdmutter-Göttinnen stünden dann die um Jahrtausende älteren Frauen-Figurinen des Paläolithikums ziemlich ratlos in der Eiszeit herum oder in ihrer sonstigen jeweiligen Epoche und würden auf ihre Erklärung warten. Jene Wildbeutergruppen früherer Steinzeit-Epochen müssten dann eine gänzlich andere Religion gehabt haben, wenn es überhaupt eine Religion war, denn von Ackerbau hatten sie noch keine Ahnung.
Wer eine Linie hätte sehen wollen von den Göttinnen des Ackerbaus zurück bis zu den Göttinnen der Eiszeit, dem wäre die Frage gestellt worden: Wohin guckst Du? Die von Dir gesehenen Gemeinsamkeiten bestehen nur aus sekundären Geschlechtsmerkmalen nicht aber aus dem gesuchten kulturellen Zusammenhang.
Mit der alten Theorie von der Abfolge der neolithischen Revolution wurden also die religiösen Verbindungsfäden abgeschnitten. Einen Traditionsstrom von der Eiszeit bis ins Neolithikum anzunehmen, galt als unstatthaft, weil dazwischen ein paar Jahrtausende rein pragmatisch-technischer Kulturentwicklung lagen, Jahrtausende ohne Religion? So etwa ergab sich das aus der alten Vorstellung.
Paläolithische Göttinnen
Venus von Yeliseevichi, 15000 Jahre alt, rund fünftausend Jahre vor der neolithischen Revolution
(Foto von Thilo Parg, Lizenz: CC-BY-SA-4.0 )
Venus von Willendorf, 29000 Jahre alt, rund zwanzigtausend Jahre vor der neolithischen Revolution
(Foto von Matthias Kabel, Lizenz: CC-BY-SA-3.0 )
Venus vom Hohlefels, 35 bis 40 Tausend Jahre alt, rund dreißigtausend Jahre vor der neolithischen Revolution
(Foto von Rameßos, Lizenz: CC-BY-SA-3.0 )
Paläolithische Göttinnen dürfen eigentlich nicht als solche bezeichnet werden, noch weniger als "Venus", weil damit eine Vorstellung aus dem klassischen Polytheismus zurück projeziert wird auf ein ganz anderes Zeitalter. Mit welchen Gedanken und Gefühlen die paläolithischen Künstler*innen diese Statuetten aus Mammut-Elfenbein schnitzten lässt sich nur vermuten. Aber es ist nicht nur die berechtigte Warnung vor anachronistischen Projektionen, die diesen Bezeichnungen entgegensteht, sondern es könnte auch eine moderne Abwehr gegen alles Religiöse sein, die solche Begriffe verbieten möchte. Die angeblich neutralen Bezeichnungen als "Statuetten" oder als "Kleinkunst" könnten Anzeichen einer Verdrängung sein, die es bewusst zu machen gälte.
In die andere Richtung, nämlich vom Neolithikum in die Zukunft, also in die Hochkulturen, in die Bronzezeit und Eisenzeit durfte ein Zusammenhang zwar behauptet werden, aber da fächert sich die Religionsgeschichte bereits auf in viele Mythologien und regionale Varianten. Wer die Gemeinsamkeiten nicht sehen will, findet schnell ein paar Ausreden.
Die alte Vorstellung von der neolithischen Revolution lässt nicht nur diese religionslos geschehen, sondern zerstückelt auch noch die Traditionslinien der Religionsgeschichte in lauter sinnlose Einzelteile. Wenn Religion nichts weiter sein soll, als eine hinterherlaufende Spiegelung der technischen Entwicklung, dann darf Religion immer nur innerhalb der jeweiligen technischen Epoche gedacht und erklärt werden. Diese Engfassung des Religionsbildes ist ein typisches Produkt unserer modernen Zivilisation und zeigt sowohl deren Vergötterung des technischen Fortschritts, als auch deren Verdrängung des Religiösen.
Die archäologischen Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte haben schon längst diese ganze traditionelle Reihenfolge der neolithischne Revolution über den Haufen geworfen. Spätestens mit den Ausgrabungen vom Göbekli Tepe sieht alles anders aus im Neolithikum. "Der Tempel war vor der Stadt" so brachte Klaus Schmidt, der Ausgräber von Göbekli Tepe den Ausstieg aus der traditionellen Vorstellung schließlich auf den Punkt. Darf man diese Aussage etwas verallgemeinern? Die Religion war vor der neolithischen Revolution!
Bevor wir Göbekli Tepe genauer betrachten, hier noch einmal in Kurzfassung und ein bisschen scherzhaft diese nun hinfällig gewordene Vorstellung von der Abfolge der neolithischen Revolution:
1. Die Saat wird ganz zufällig und nebenbei erfunden. Die schon gesammelten Körner nicht essen, sondern wegwerfen. Wie kommen Menschen auf so eine Idee?
2. Durch die damit erfolgte Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung erübrigt sich das Umherstreifen. Endlich darf der Mensch Häuser bauen und sich niederlassen. Häuser sind eine ganz praktische und religionsfreie Sache. Wie haben die das nur ausgehalten ohne ein Dach über dem Kopf all die Jahre davor?
3. Die Ernte muss gelagert werden. Wir fangen an zu töpfern und entwickeln den Brennofen. Keramik-Gefäße dienen dem praktischen Leben und haben sonst keine, zumindest keine religiöse Bedeutung.
4. Bei guter Ernärung und ordentlicher Behausung vermehrt sich die Bevökerung. Das tut sie einfach so, ohne religiöse Hintergedanken. Aus Dörfern werden Städte.
5. Die Gesellschaft gliedert sich in oben und unten, in arm und reich, in leader and trouper. Die Religion kann nichts dafür und nichts dagegen, weil es sie ja noch gar nicht gibt.
6. Nachdem nun alle relevanten Dinge erledigt sind haben die Menschen Zeit, auf weniger relevante Gedanken zu kommen. Sie werden fromm und erfinden eine Göttin.
7. Die Göttin braucht natürlich auch ein Haus, wie wir alle. Auf, lasst uns einen Tempel bauen!
Sorry für die Karikatur, aber vielleicht hilft sie zur Erkenntnis. Göbekli Tepe und Nevali Cori waren die tatsächlichen Erkenntnisschübe und sollen im Folgenden betrachtet werden.
Und dann darf die Frage nach der Art (oder den Arten?) von Religion gestellt werden, die es damals gab. Und es darf die Frage gestellt werden nach der Rolle, die diese Religion (oder diese Religionen?) gespielt haben könnten beim vielleicht doch nicht so pragmatisch-technischen Fortschritt.
Antike Göttinnen